„In der Zeit von 1934 bis zum 9. Mai 1945
[galt] der barbarische, unsinnige Gedanke, daß ein Menschenleben gegenüber
Führerbefehl oder einem Führerwunsch höchst gleichgültig sei. Nach dem 9. Mai
1945 war schlagartig diese Auffassung von der Ungeziefervertilgung nicht mehr
da.“
Hans Calmeyer 1963 vor niederländischen Behörden
Anfang März 1941 – ein Jurist namens Hans Calmeyer beginnt beim Reichskommissariat in Den Haag seine Tätigkeit als „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter“ in der Abteilung „Innere Verwaltung“. Seit dem 10. Januar 1941 müssen sich niederländische Juden registrieren lassen – und sie melden sich pflichtbewußt – ohne zu ahnen, was diese Meldung später für sie bedeuten wird. Calmeyer ist ein Verwaltungsjurist beim Reichskommissar. Das kleine Rad in der Verwaltungsmaschinerie beginnt sich nach kurzer Zeit nicht mehr nach Vorschrift zu drehen: Anordnungen und Forderungen für die niederländische Bevölkerung werden abgemildert oder abgeschwächt. Dem taktisch geschickten Calmeyer gelingt es sogar, die Ausführung von Repressionsbestimmungen zu verschleppen oder sogar zu verhindern. Eines Tages wird diese Abteilung mit der Aufgabe betraut, über Zweifelsfälle hinsichtlich der Anmeldepflicht von Juden und Mischlingen zu entscheiden. Calmeyer wird Referent der sogenannten „Entscheidungsstelle für Zweifelfragen der Abstammung“ – es gibt eine „Dienststelle Calmeyer“. Die „Nürnberger Rassegesetze“ von 1935 gelten auch in den besetzten Gebieten. Die Frage nach dem Grad des Anteils an „jüdischem Erbgut“ kann in diesen Tagen über Freiheit, Verfolgung und Ermordung entscheiden. Calmeyer entdeckt seine Chance: Juden wird nahegelegt, vor einer „rassischen Klassifizierung“ ihre Unterlagen verloren zu haben. Selbst mündliche Abstammungsurkunden werden akzeptiert. Der Jurist Calmeyer gibt deutlich zu erkennen, daß er bereit ist, alle möglichen „arischen Vorfahren“ anzuerkennen – mag der Nachweis dafür auch noch so zweifelhaft sein. Um die deutsche gründliche Verwaltungsmaschinerie zufrieden zu stellen, akzeptieren Calmeyer und seine Mitarbeiter Abstammungsnachweise aller Art – erwecken sie auch nur den Anschein, echt zu sein. Zu Calmeyers Rettungswerk gehören eine Reihe von niederländischen Juristen, Pastoren, Ärzten, Standesbeamten und Bürgermeistern, die verschwiegene Teile der „Fälscherfabrik“ von historischen Dokumenten werden. Über Nacht sind eine Reihe der Vorfahren von „Calmeyer-Juden“ schon im 19. Jahrhundert zum Christentum übergetreten. Ihre Nachkommen gelten so nicht mehr als „Volljuden“ nach den „Nürnberger Rassegesetzen“. Eine Vielzahl von Antragstellern kann Calmeyer aufgrund dieser „Unterlagen“ sofort „entlasten“ – ihm gelingt zudem, die Bearbeitung einer Reihe von Zweifelsfällen bewußt zu verschleppen, um Zeit gegen den kollektiven Rassenwahn zu gewinnen.
Calmeyers Treiben kann nicht lange gut
gehen: Hohen SS- und Polizeiführern fällt auf, daß ausgerechnet bei Calmeyer
vermehrt Juden nicht unter die „Nürnberger Rassegesetze“ fallen. In internen
Schreiben und vertraulichen Gesprächen nennen sie ihn „Beschützer aller Juden“
und sogar „Saboteur der Judengesetzgebung“. Die Gestapo fordert, die
Beurteilung von jüdischen Abstammungsfällen selbst in die Hand zu nehmen.
Calmeyer zeigt Rückgrat – er verfährt so wie bisher, obwohl er selbst in das
Fadenkreuz des Verfolgungs- und Vernichtungsapparates gerät.
Doch auch Calmeyer gerät in ein menschliches
Dilemma: Wenn er allen Antragstellern arische Eltern und Vorfahren verschafft,
fliegt sein konspirativer Fälscherring auf. Mit der Sprache der Nazijustiz muß
er ohnehin operieren – die Umstände erfordern es, daß er ab und an auch eine
jüdische Abkunft attestieren muß. Eine Belastung seines Gewissens, die ihn den
Rest seines Lebens verfolgen wird. Der Taktiker muß Mitschuld auf sich laden,
um viele Menschen retten zu können.
Calmeyers Ahnennachweise retteten 2866
namentlich bekannte Juden vor der Deportation in die Internierungs- und
Vernichtungslager. Nimmt man die Familien und Großsippen dazu, beläuft sich die
Zahl der Geretteten sogar auf etwa 17.000 Menschen. Die Geschichte von Calmeyer
ist ein bisher weitgehend unbekanntes Kapitel in der Chronik der Judenrettung
im 2. Weltkrieg.
Calmeyer stammt aus der westfälischen
Provinz. 1903 wird er in Osnabrück als Sohn eines Richters geboren. Er studiert
Jura und interessiert sich für Kunstgeschichte und Geographie. In München lernt
er den Sozialismus kennen und findet Aufnahme in einer Kompanie der Schwarzen
Reichswehr. 1932 wird er in seiner Heimatstadt Osnabrück freier Rechtsanwalt
und gilt bei den Nazis als „Salonbolschewist“. Zeitweise wird ihm die
Berufserlaubnis entzogen – er bleibt unter Beobachtung der Gestapo. Ab Mai 1940
ist er Soldat in einer Luftnachrichtenkompanie in den Niederlanden.
Nach dem Ende des Krieges versucht Calmeyer,
erneut in Osnabrück Fuß zu fassen: Er wird wieder Anwalt – bald auch Notar.
Daneben entwickelt er ein starkes kulturelles Engagement in seiner Stadt. Aus
Bescheidenheit verschweigt er seine eigenen Taten – ja, er macht sich sogar
Vorwürfe, viel zu wenig getan zu haben. Anfang der sechziger Jahre stoßen
Journalisten auf sein Schicksal. Es gibt Rundfunk- und Fernsehberichte, die
jedoch nicht das gebührende Echo haben. Von der nationalsozialistischen
Vergangenheit will man im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik in den sechziger
Jahren nichts mehr hören. Ein „Judenretter“ Calmeyer ist ein störendes Glied in
einer Nachkriegsgesellschaft mit flüchtigem Gedächtnis. Noch 1965 schreibt er
deprimiert in einem Brief: „Verzweifelt sein, verzweifelt bleiben, das ist die
einzige und wertvolle Haltung, die wir gegenüber dem Geschehen und bei der
Versuchung, das Geschehen zu beurteilen, einnehmen müssen.“ Calmeyer zieht sich
aus der Gesellschaft in sich selbst zurück und beschäftigt sich intensiv mit
der Welt des Geistes, der Literatur und mystischer Verklärungen. Seine letzten
Lebensjahre sind zunehmend von Depressionen und esoterischem Eskapismus
geprägt. 1972 stirbt er.
Erst spät wird er wiederentdeckt: Ab 1988
wird seine Geschichte erforscht; 1992 wird er von Yad Vashem als „Gerechter der
Völker“ geehrt; 1995 wird ihm posthum die höchste Auszeichnung seiner
Heimatstadt Osnabrück, die Mösermedaille, verliehen.
Joachim Castan