Stalin

 

 

Erstdruck: »Stalin: Devil or Genius?«. Liberty (New York), 10.01.1942 – 21.02.1942.

Erstausgabe: Emil Ludwig. Stalin. Transl. by Erna McArthur. New York: G.P. Putnam’s sons, 1942, VIII + 248 pp.

Originalsprachige Erstausgabe: Emil Ludwig. Stalin. Zürich: C. Posen, 1945 (Gesammelte Werke 5), 200 pp.

Übersetzungen: Französisch (1942), Griechisch (1945), Italienisch (1944), Portugiesisch (1943), Spanisch (1942), Türkisch (1945).

 

 

Die Biographie basiert auf einem einzigen, dreistündigen Interview, dass Emil Ludwig am 13. Dezember 1931 mit Stalin führte. Erst etwa zehn Jahre nach Veröffentlichung des Gesprächs erschien die Gesamtbiografie, zunächst in der New Yorker Wochenschrift Liberty, welche eine Auflage von etwa vier Millionen Exemplaren umfasste. 1942 wurde sie in erweiterter Form als Buch in Amerika und 1945 in weiten Teilen Europas herausgebracht. Hier erschien auch die deutschsprachige Ausgabe im Carl Posen Verlag Zürich. Durch Emil Ludwig entstand eine der ersten international publizierten Biographien Stalins, die den Diktator nicht aus sozialistischer Propaganda heraus portraitiert. Kennzeichnend für Ludwig ist vielmehr, den Charakter Stalins zu ergründen und gerade die menschlichen Seiten des Diktators offenzulegen.

Das Buch umfasst zwölf Kapitel, die in chronologischer Reihenfolge das Leben Stalins widerspiegeln: Geboren wurde er als Josef Wissassionowitsch Djougaschwili in Georgien. Aufgrund der Erfahrungen während seines Aufenthaltes im Priesterseminar des Jesuitenordens wurde er Sozialist. Da er schon in jungen Jahren Funktionär der illegitimen sozialistischen Partei war, wurde er von der zaristischen Polizei verfolgt und musste sich zahlreichen Gefängnisaufenthalten unterziehen. Durch seinen kontinuierlichen Dienst für die Partei gelang es ihm, aus der Klasse des Proletariats aufzusteigen und letztendlich das führende Parteimitglied der Sowjetregierung zu werden. Die radikale Härte, mit der er seinen Gegnern entgegentrat, wird im Buch ebenso thematisiert wie die positiven Errungenschaften, die mit Stalins Ära Einzug in Russland fanden. Dabei wird Stalins Sowjetverfassung von 1936 sogar auf einer Stufe mit der Unabhängigkeitserklärung von Amerika sowie den französischen Menschenrechten gestellt.

Ludwig verfolgt mit der Veröffentlichung der Biographie ein Umdenken gegenüber der international scharf kritisierten Sowjetideologie: Als absoluter Kriegsgegner kann er die Grausamkeit Stalins nicht gutheißen, jedoch sieht Ludwig in ihm einen wichtigen Verbündeten gegen Hitler-Deutschland. Um ein Umdenken zu erreichen, zieht Ludwig viele Vergleiche mit bekannteren Persönlichkeiten, u.a. mit Trotzki und Lenin, aber auch mit Hitler und Mussolini. Im Vergleich zu Hitler wird Stalin viel positiver dargestellt: Ihm wird beispielsweise der Pioniergeist Amerikas nachgesagt, der ihm viel ähnlicher sei als die überschwängliche Expansionspolitik Deutschlands.

Die Besonderheit an der Biografie ist der dem ersten Kapitel vorangestellte Textabschnitt »Die Erscheinung«, der zusammen mit dem zwölften Kapitel »Stalin simplex« eine Art Erzählrahmen bildet. Ludwig greift hierin die kühle, sterile Gesprächsatmosphäre sowie das düstere, fremdländische Erscheinungsbild Stalins auf, um abschließend die Einfachheit Stalins als dessen bewundernswerteste Tugend herauszustellen, denn der persönliche Eindruck sei maßgeblich entscheidend, um das Wesen des verschlossenen Staatsmannes zu ergründen.

Grausamkeit, Düsterheit, Kälte und Rache führt Ludwig allein auf Stalins asiatische Herkunft zurück. Er stellt Stalin als bescheidenen Mann des Volkes dar, sodass sich insgesamt ein tendenziell positives Bild abzeichnet. In diesem Kontext ist auch der vorangestellte Motto Schillers zu verstehen, den Ludwig für das Buch wählte: »Und wenn es glückt, so ist es auch verziehn, denn aller Ausgang ist Gottes Urteil.«

Historisch betrachtet gelang es Ludwig zwar nur teilweise, das Wesen des verschlossenen Diktators zu erfassen, aber dennoch stieß die Biografie auf breites öffentliches Interesse, insbesondere auch durch den Epilog von 1945. Ludwig selbst ist der Meinung, dass er dazu beigetragen habe, die Amerikaner für Russland umzustimmen. Er lieferte der europäischen und amerikanischen Bevölkerung jedoch auch, möglicherweise unbeabsichtigt, brutale Wahrheiten über Stalin, sodass die Kritik an dem sowjetischen System mitunter noch angefacht wurde. Als Ludwig das Buch in Europa veröffentlichte, waren die deutschen Gebiete bereits unter den Alliierten aufgeteilt.

Gerade die Verbindung zwischen Preußen und dem russischen Sowjetstaat bewertet Ludwig als sehr positiv: Er sah Russland viel weniger als Besatzungsmacht, sondern eher als starken Partner Preußens. Daher vertritt er auch weiterhin seine Zukunftsversion von einem Europa, dass von einem abgemilderten Kommunismus im Osten und einem verstärkten Sozialismus im Westen geprägt ist.

 

Anika Jordan