Anfang
März 1941 – ein Jurist namens Hans Calmeyer beginnt beim Reichskommissariat in Den
Haag seine Tätigkeit als »wissenschaftlicher Hilfsarbeiter« in der Abteilung
»Innere Verwaltung«. Seit dem 10. Januar 1941 müssen sich niederländische Juden
registrieren lassen – und sie melden sich pflichtbewußt – ohne zu ahnen, was
diese Meldung später für sie bedeuten wird. Calmeyer ist ein Verwaltungsjurist
beim Reichskommissar. Das kleine Rad in der Verwaltungsmaschinerie beginnt sich
nach kurzer Zeit nicht mehr nach Vorschrift zu drehen: Anordnungen und
Forderungen für die niederländische Bevölkerung werden abgemildert oder
abgeschwächt. Dem taktisch geschickten Calmeyer gelingt es sogar, die
Ausführung von Repressionsbestimmungen zu verschleppen oder sogar zu
verhindern. Eines Tages wird diese Abteilung mit der Aufgabe betraut, über
Zweifelsfälle hinsichtlich der Anmeldepflicht von Juden und Mischlingen zu
entscheiden. Calmeyer wird Referent der sogenannten „Entscheidungsstelle für
Zweifelfragen der Abstammung“ – es gibt eine »Dienststelle Calmeyer«. Die
»Nürnberger Rassegesetze« von 1935 gelten auch in den besetzten Gebieten. Die
Frage nach dem Grad des Anteils an »jüdischem Erbgut« kann in diesen Tagen über
Freiheit, Verfolgung und Ermordung entscheiden. Calmeyer entdeckt seine Chance:
Juden wird nahegelegt, vor einer »rassischen Klassifizierung« ihre Unterlagen
verloren zu haben. Selbst mündliche Abstammungsurkunden werden akzeptiert. Der
Jurist Calmeyer gibt deutlich zu erkennen, daß er bereit ist, alle möglichen
»arischen Vorfahren« anzuerkennen – mag der Nachweis dafür auch noch so
zweifelhaft sein. Um die deutsche gründliche Verwaltungsmaschinerie zufrieden
zu stellen, akzeptieren Calmeyer und seine Mitarbeiter Abstammungsnachweise
aller Art – erwecken sie auch nur den Anschein, echt zu sein. Zu Calmeyers
Rettungswerk gehören eine Reihe von niederländischen Juristen, Pastoren,
Ärzten, Standesbeamten und Bürgermeistern, die verschwiegene Teile der
»Fälscherfabrik« von historischen Dokumenten werden. Über Nacht sind eine Reihe
der Vorfahren von »Calmeyer-Juden« schon im 19. Jahrhundert zum Christentum
übergetreten. Ihre Nachkommen gelten so nicht mehr als »Volljuden« nach den
»Nürnberger Rassegesetzen«. Eine Vielzahl von Antragstellern kann Calmeyer
aufgrund dieser »Unterlagen« sofort »entlasten« – ihm gelingt zudem, die
Bearbeitung einer Reihe von Zweifelsfällen bewußt zu verschleppen, um Zeit
gegen den kollektiven Rassenwahn zu gewinnen.
Calmeyers
Ahnennachweise retteten 2866 namentlich bekannte Juden vor der Deportation in
die Internierungs- und Vernichtungslager. Nimmt man die Familien und Großsippen
dazu, beläuft sich die Zahl der Geretteten sogar auf etwa 17.000 Menschen. Die
Geschichte von Calmeyer ist ein bisher weitgehend unbekanntes Kapitel in der
Chronik der Judenrettung im 2. Weltkrieg.
Calmeyer
stammt aus der westfälischen Provinz. 1903 wird er in Osnabrück als Sohn eines
Richters geboren. Er studiert Jura und interessiert sich für Kunstgeschichte
und Geographie. In München lernt er den Sozialismus kennen und findet Aufnahme
in einer Kompanie der Schwarzen Reichswehr. 1932 wird er in seiner Heimatstadt
Osnabrück freier Rechtsanwalt und gilt bei den Nazis als »Salonbolschewist«.
Zeitweise wird ihm die Berufserlaubnis entzogen – er bleibt unter Beobachtung
der Gestapo. Ab Mai 1940 ist er Soldat in einer Luftnachrichtenkompanie in den
Niederlanden.
Nach dem
Ende des Krieges versucht Calmeyer, erneut in Osnabrück Fuß zu fassen: Er wird
wieder Anwalt – bald auch Notar. Daneben entwickelt er ein starkes kulturelles
Engagement in seiner Stadt. Aus Bescheidenheit verschweigt er seine eigenen
Taten – ja, er macht sich sogar Vorwürfe, viel zu wenig getan zu haben. Anfang
der sechziger Jahre stoßen Journalisten auf sein Schicksal. Es gibt Rundfunk-
und Fernsehberichte, die jedoch nicht das gebührende Echo haben. Von der
nationalsozialistischen Vergangenheit will man im Wirtschaftswunderland
Bundesrepublik in den sechziger Jahren nichts mehr hören. Ein »Judenretter«
Calmeyer ist ein störendes Glied in einer Nachkriegsgesellschaft mit flüchtigem
Gedächtnis. Calmeyer zieht sich aus der Gesellschaft in sich selbst zurück und
beschäftigt sich intensiv mit der Welt des Geistes, der Literatur und
mystischer Verklärungen. Seine letzten Lebensjahre sind zunehmend von
Depressionen und esoterischem Eskapismus geprägt. 1972 stirbt er.
Erst
spät wird er wiederentdeckt: Ab 1988 wird seine Geschichte erforscht; 1992 wird
er von Yad Vashem als »Gerechter der Völker« geehrt; 1995 wird ihm posthum die
höchste Auszeichnung seiner Heimatstadt Osnabrück, die Mösermedaille,
verliehen. Bestandsverzeichnis der im Remarque Friedenszentrum verwahrten
Materialien zu Hans Calmeyer sowie Informationen zu seiner Biographie.